Agoraphobie: Carl Westphal

Der Begriff Agoraphobie wurde 1872 von dem deutschen Psychiater Carl Westphal eingeführt, abgeleitet von den griechischen Worten αγορά (agora) „Markt(-platz)” und φόβος (phobos) „Furcht”, zu deutsch auch Platzfurcht bzw. Platzangst.

Carl Westphal beschrieb damit ein von ihm beobachtetes Krankheitsbild, bei dem es den Erkrankten nicht möglich sei, über freie Plätze und durch gewisse Straßen zu gehen und sie aus Furcht vor solchen Wegen in der Freiheit ihrer Bewegungen eingeschränkt seien, und bei dem es sich um eine „neuropathische Erscheinung” handele (vgl. Westphal 1872).

Westphal ergänzte, dass sich die Ängste bei der Agoraphobie nicht ausschließlich auf öffentliche Plätze beschränken, dass er aber trotzdem den Begriff Agoraphobie wählte: Diese Furcht vor dem Durchschreiten von Plätzen resp. Strassen stellte derart das Hauptphänomen dar, dass ich, obwohl sie sich noch auf gewisse andere Situationen bezog, und daher die gewählte Bezeichnung nicht ganz erschöpfend ist, das Wort Agoraphobie, Platzfurcht, dafür bilden zu können meinte. (vgl. Westphal 1872).

Bemerkenswert ist dabei insbesondere, dass Westphal bereits zum damaligen Zeitpunkt sehr genau die bei der Agoraphobie auftretenden Symptome erfasste - und dass seine Beschreibungen in den folgenden einhundert Jahren nur wenig hinterfragt wurden. So galt die „Platzangst” lange Zeit als eine Angst „vor öffentlichen Orten”.

Auch in den aktuellen Diagnosesystemen, wie zum Beispiel der ICD-10, wird die Agoraphobie immer noch als eine Phobie, die mit Befürchtungen, das Haus zu verlassen, Geschäfte zu betreten, in Menschenmengen und auf öffentlichen Plätzen zu sein oder alleine mit Bahn, Bus oder Flugzeug zu reisen verbunden sei, beschrieben.

Weiterlesen: Agoraphobie: ICD-10

Dabei wird jedoch schnell übesehen, dass sich die Angst bei der Agoraphobie nicht auf die oben beschriebenen Situationen richtet, sondern vielmehr darauf, in einer der o.g. Situationen hilflos oder ausgeliefert zu sein.

Die Agoraphobie ist also weniger eine Angst vor Plätzen, sondern vielmehr eine Angst vor der Hilflosigkeit. John Bowlby führte diesbezüglich den Begriff der so genannten Pseudophobie ein.

Weiterlesen: Pseudophobie

“Die Agoraphobie, eine neuropathische Erscheinung”

Westphal schrieb in seinem Aufsatz „Die Agoraphobie, eine neuropathische Erscheinung” (1872):

Seit mehreren Jahren haben sich wiederholt Kranke mit der eigenthümlichen Klage an mich gewandt, dass es ihnen nicht möglich sei, über freie Plätze und durch gewisse Strassen zu gehen und sie aus Furcht vor solchen Wegen in der Freiheit ihrer Bewegungen genirt würden.

Sie verlangten Aufschluss über die Natur des Leidens, über das sie zum Theil nur ungern und mit gewisser Scheu Mittheilungen machen, und liessen die Besorgnis durchblicken, oder sprachen sie geradezu aus, sie möchten der Sonderbarkeit der Sache wegen verlacht oder gar für geisterkrank gehalten werden.

Diese Furcht vor dem Durchschreiten von Plätzen resp. Strasse stellte derart das Hauptphänomen dar, dass ich, obwohl sie sich noch auf gewisse andere Situationen bezog, und daher die gewählte Bezeichnung - denn eine solche schien mir wünschenswerth - nicht ganz erschöpfend ist, das Wort Agoraphobie, Platzfurcht, dafür bilden zu können meinte.

Neben der genannten Erscheinung bestanden, wie man sehen wird, noch anderweitige Störungen des Nervensystems, die meist erst auf besonderes Befragen zur Kenntnis kamen oder nur nebenbei von den Patienten erwähnt wurden.

Aus der Literatur ist mir, mit Ausnahme einer neuesten, wahrscheinlich hierher gehörigen und mir erst während des Niederschreibens dieses Aufsatzes zu Gesicht gekommenen Beobachtung, von der später die Rede sein wird, eine Beschreibung des Leidens nicht bekannt geworden. (...)


(vgl. Westphal 1872))

Agoraphobie: Carl Westphal
Abb.1: Carl Westphal: Die Agoraphobie, eine neuropathische Erscheinung.

Neben der Beschreibung des Krankheitsbildes betonte Westphal auch die nosologische Zuordnung der Agoraphobie als reines „Nervenleiden”.

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